LESEPROBE
Jedesmal, wenn ich im Gespräch jüngeren Freunden Episoden
aus der Zeit vor dem ersten Kriege erzähle, merke ich an ihren
erstaunten Fragen, wieviel für sie schon historisch oder unvorstell
bar von dem geworden ist, was für mich noch selbstverständliche
Realität bedeutet. Und ein geheimer Instinkt in mir gibt ihnen recht: zwischen unserem Heute, unserem Gestern und Vorgestern sind alle Brücken abgebrochen.
Stefan Zweig: Die Welt von gestern (1942)
Wir befinden uns, wie im Jahre 1914, in einer Phase des Umbruchs.
Die Konturen des alten Systems sind im Auflösen begriffen, die
neuen Konstellationen sind noch nicht klar erkennbar. Gerade in
solchen Momenten, wo das Gleichgewicht ins Wanken kommt,
häuft sich das Risiko.
Christopher Clark: Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele (2014)
Wer legt eigentlich fest, dass Fantasie und Dichtung in einer
Biografie nichts zu suchen haben?
Virginia Woolf zu Orlando
Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht
glauben wollen, aber schon damals bewegte sich die Zeit so
schnell wie ein Reitkamel. (…) Man wusste bloß nicht wohin.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1930)
Das Bild zeigt eine Frau in den besten Jahren, sie trägt ein weißes, spitzenbesetztes Kleid, das hübsche Gesicht in die Hand gestützt, die zu Locken getürmten Haare von einem Hut mit Straußenfedern gebändigt. Zwei französische Zwergbulldoggen sitzen auf ihrem Schoß wie bei anderen Leuten Kinder in Matrosenanzügen. Ihr Mund verrät Willenskraft. Klug und skeptisch blickt die Porträtierte den Betrachter an, fast unangenehm ist dieser Blick, der sein Gegenüber präzise taxiert, dem nichts entgeht. Hier ist eine Frau, der man kein X für ein U vormachen kann.
Es ist die wohl berühmteste Fotografie der Anna Sacher. Die legendäre Hotelbesitzerin wusste sich selbstbewusst in Szene zu setzen und in den bodenständigen Satz zu kleiden: »Das Sacher, das bin ich und sonst niemand.« [...]