Leseprobe
Das letzte Fest des alten Europa: Anna Sacher und ihr Hotel
Man sagte immer »der Sacher«, aber eigentlich sollte man
sagen: »die Sacher«. Nämlich Frau Anna Sacher. (…) Die Sacher ist
keine gewöhnliche Wirtin, sie ist eine patrizische Dame.
Ludwig Hirschfeld: Wien. Was nicht im Baedeker steht (1927)
Der Winter hielt Einzug in der Stadt. Anna Sacher blickte aus dem Fenster ihres Büros hinaus zur Hofoper. Schneeflocken tanzten durch die Luft, und auf der Straße glitzerten Eiskristalle. Noch hatte keine Droschke Spuren durch den frischen Schnee gezogen, es war früh. Sehr langsam nur graute der Morgen. Die Zeitungen, allen voran die Neue Freie Presse und die Wiener Zeitung, lagen schon für Anna bereit, aber das Zimmer war noch kalt, gerade erst war das Feuer im kleinen Ofen angezündet worden.
Sind gnädige Frau schon wach?, hatte ihr einer der Frühstückskellner mit einem Anflug von schlechtem Gewissen zugerufen, als er Anna das Hotel betreten sah. Normalerweise stellte er den Kaffee pünktlich, und kurz bevor die Chefin kam, auf ihren Schreibtisch.
Bin gleich bei Ihnen, hatte er hinzugefügt und war Richtung Küche geeilt, während Anna den Pelzmantel abgestreift, dem Portier überreicht und ihr Büro betreten hatte. Ihr morgendlicher Weg war nicht weit, die Wohnung lag bloß um die Ecke, und der Pelz, den sie trug, war mehr als ein Schutz gegen die November- kälte. [...]