Leseprobe
Das letzte Fest des alten Europa: Anna Sacher und ihr Hotel
Ich sage mir oft, ich sage mir täglich: Nein, man kann in Wien
nicht mehr leben, fort! Hier sind nicht zwölf Menschen, die halbwegs europäisch empfinden. Und hinter ihnen ist gleich nichts; das
Chaos. Aber dann malt Klimt ein neues Bild. Dann macht Roller
den Tristan oder den Fidelio neu, Mahler dirigiert, die Mildenburg singt. Und ich sage mir dann: Ich könnte doch nirgends leben als
in Wien, wirklich leben, was mir Leben ist.
Hermann Bahr: Dekorationen, Neue Rundschau (1905)
Gustav Mahler stand amüsiert im Vestibül des Sacher und lauschte seinem neuen Freund Gerhart Hauptmann, der Alma am Arm genommen und von der Tür zurückgezogen hatte.
Liebste Frau Mahler, ich bitte Sie, achten Sie auf Gretchen. Lassen Sie sie in kein Geschäft hineingehen, sie hat keine Ahnung von Geld und gibt alles aus, was sie bei sich hat, sorgte sich Hauptmann.
Gretchen, eigentlich Margarete Marschalk, war die Geliebte des Dichters, dessen fast 20-jährige Ehe mit Marie Thienemann noch in diesem Jahr geschieden werden sollte. Ein wunderschönes Wesen, die schwarze Atlashose unterstrich ihren schlanken Körper. Sie trug die schwarzen kurzen Locken offen, ganz modern – ganz Feenerscheinung. Alma, die junge Gemahlin Gustav Mahlers – die Herren waren gut zwanzig Jahre älter als ihre Gefährtinnen –, wirkte dagegen fast ein wenig hausbacken, überdies war sie im fünften Monat schwanger.
Denken Sie, flüsterte Hauptmann weiter, in Berlin gab ich ihr einen großen Geldschein und sagte: »Gretchen, gib mir das in Italien wieder«, und als ich dann das Geld verlangte, wusste sie überhaupt nicht mehr, dass ich ihr welches gegeben hatte.
Alma! Kommen Sie nun oder nicht? Margarete stand schon auf der Straße. Gerhart erzählt Ihnen lauter Blödsinn! Ich kaufe doch nur ein, um ihm zu gefallen. [...]