Leseprobe
Das letzte Fest des alten Europa: Anna Sacher und ihr Hotel
Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewussten,
von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-
konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der
Polarität von Leben und Sterben, das alles berührte mich mit einer
unheimlichen Vertrautheit … So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbst
wahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an
anderen Menschen aufgedeckt habe.
Sigmund Freud, 1922 zu Schnitzlers 60. Geburtstag
Begleiten Sie mich doch ins Theater, sagte er. Meine Frau ist erkrankt, und es wäre doch schade um die schönen Karten.
Was wird denn gespielt? Annas Irritation war nicht zu leugnen. Durfte sie Ja sagen? Sie, die Witwe, dem verheirateten Mann?
Ein neues Stück von Arthur Schnitzler, sein erstes am Burgtheater, Liebelei heißt es. Kennen Sie den Dichter?, fragte Julius Schuster.
Ja, gab Anna zurück. Er war schon öfter hier.
So fing alles an, wenn man das erste scheue Sichgewahrwerden im Prater vor drei Jahren außer Acht lässt. Dabei kannte Julius Schuster Anna Sacher natürlich seit Jahren. Wie oft hatte er, Zentraldirektor bei Nathaniel Rothschild, mit seiner schönen Frau Anna Schuster, geborene Konrath, im Restaurant in der Augustinerstraße gespeist oder im Sommer das Sacher im Prater besucht. Dass er sich von der Wirtin angezogen fühlte, die so viel mehr von einem unbekümmerten Vorstadtmädchen hatte als von einer wohlerzogenen Großbürgerstochter, fiel ihm lange Zeit nicht auf. War es doch eben diese naturwüchsige Lebendigkeit, gepaart mit einer fast männlichen Resolutheit, die alle an der Sacher schätzten, wenn auch die Männer für gewöhnlich ein wenig mehr als deren Frauen. [...]